Unzählige Motorräder parken dicht an dicht. Und alle paar Minuten fährt eine weitere Gruppe vor, der Platz auf dem Gelände wird langsam eng. Lautstark begrüßen sich Brüder, die sich lange nicht gesehen haben; wenn die Musik gerade pausiert, hört man irgendwo im Hintergrund das Summen der Tätowiermaschine. Die Szenerie ist eigentlich die gleiche wie auf allen Bikerpartys – und doch läuft hier einiges anders, hier, im „Bike Center“, dem Moskauer Hauptquartier der Ночные Волки (Nachtwölfe), wo sie am Wochenende vom 31. Mai bis 1. Juni das dreißigjährige Jubiläum feiern.
Anders zum Beispiel ist das Verhältnis von vollwertigen Membern und Anwärtern: Im Gegensatz zu Partys anderer großer Motorradclubs sind Kutten mit vollem Colour eindeutig in der Minderheit. Es kann Jahre dauern, bis sich ein Kandidat die Ehre verdient hat, mit dem flammenden Wolfskopf zu fahren.
Angefangen hat alles Mitte der Achtziger, als sich eine Gruppe motorradbegeisterter Halbstarker zusammentat, um die ersten Rockkonzerte in Moskau zu veranstalten. Nicht immer ganz legal und mit der ständigen Gefahr eingeschleuster Provokateure, die der sowjetischen Obrigkeit einen Vorwand lieferten, die Veranstaltungen zu torpedieren. Heute ist der Club nicht nur der älteste, sondern unbestritten auch der größte Russlands: Chapter führt er in rund zweihundert Städten – nicht nur in Russland, sondern in vielen osteuropäischen Staaten und sogar auf den Philippinen. An die zehntausend Member dürfte der Club derzeit zählen, seit 2015 gibt es mit den „Walküren“ außerdem eine eigene Frauenabteilung.
Außerhalb Russlands kennt man die Nachtwölfe unter dem Namen „Night Wolves“. Das liegt auch daran, dass der Club zunächst genau so hieß: Erst vor einigen Jahren entschied man sich, den englischen Namen und die lateinischen Buchstaben gegen die russische Bezeichnung mit kyrillischen Schriftzeichen zu tauschen. Diese Entscheidung steht sinnbildhaft für das, was vor allem ausländische Kritiker den russischen Rockern vorwerfen: Die Nachtwölfe seien weniger ein Motorradclub als militante Nationalisten. „Das war eine Reaktion auf die tollwütige Russophobie, die auf der politischen und informativen Agenda der ,zivilisierten‘ Länder vorherrschte. Diese Änderung hatte nichts mit ,militantem Nationalismus‘ zu tun, für den ausländische Kritiker vor allem russische Rocker verantwortlich machen wollen. Jeder vernünftige Mensch wird das merken, wenn er einmal Kontakt mit den Nachtwölfen aufnimmt“, so Alexander Sergejewitsch Saldastanow, Gründer und Präsident der Nachtwölfe. Auch jenseits der russischen Grenzen kennt man ihn unter seinem Spitznamen „Chirurg“. Den erhielt er, weil er nach seinem Abschluss an einem medizinischen Institut sechs Jahre lang als Arzt in der Kiefer- und Gesichtschirurgie tätig war. Chirurg ist stolz darauf, dass die Nachtwölfe ein multinationaler „Moto Club“ sind; wie Russland, wo viele Nationen einen Staat bilden. Die Nachtwölfe selbst sehen sich nicht als Nationalisten, sondern als Patrioten.
Gipfeltreffen zweier Präsidenten: Bereits mehrfach haben sich Putin und Chirurg medienwirksam in Szene gesetzt
Die Kritiker der Nachtwölfe führen dagegen regelmäßig deren Nähe zur russischen Regierung und zur orthodoxen Kirche an. Die ist unstrittig und beginnt bereits 1991, als sich Mitglieder der Nachtwölfe an der Abwehr des Augustputsches beteiligten, mit dem seinerzeit eine Gruppe kommunistischer Kader ungeschickt versuchte, Gorbatschow abzusetzen und dessen Reformen zu stoppen.
Einer breiteren westlichen Öffentlichkeit wurden die Nachtwölfe aufgrund ihrer Rolle während der Krise in der Ukraine von 2014 bekannt: Damals bekannte sich der Club öffentlich zur Position Russlands und unterstützte prorussische Demonstrationen im Osten der Ukraine. Drei Mitglieder verloren dabei ihr Leben. Sogar während der Krimkrise waren die Nachtwölfe am Geschehen beteiligt. Die Chapter auf der Krim und in Sewastopol nahmen aktiv am Referendum teil – sie wollten die Vereinigung mit Russland. Nur wenige Monate nach diesem, vom UNO-Sicherheitsrat nicht anerkannten Referendum, mit dem sich eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Beitritt der Krim zu Russland ausgesprochen hatte, veranstalteten die Nachtwölfe in Sewastopol dann eine große Show: „Eine Heldengeschichte vom Sieg Russlands über die Faschisten aus Kiew, die Marionetten Amerikas, eine Mischung aus düsterem Historienspektakel, Rockkonzert, Motorshow und sozialistischer Militärparade“, urteilte die Berliner Zeitung seinerzeit. Am 10. August wird dort wieder eine große Bikeshow veranstaltet, wie in den Jahren zuvor. Es ist das Hauptereignis der Nachtwölfe im Sommer, Umfang und Konzept ähneln Eröffnungsfeiern von Olympischen Spielen.
Kurze Zeit nach der Krimkrise sorgte die Fahrt der Nachtwölfe nach Berlin für Empörung in Politik und Medien: Anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes war eine Gruppe von Nachtwölfen entlang des Marschweges der Roten Armee von Moskau nach Berlin gefahren, um dort am 9. Mai 2015 der Opfer zu gedenken – der „Tag des Sieges“ ist in Russland und vielen anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion bis heute ein gesetzlicher Feiertag. Das Bundesinnenministerium und das Außenministerium erklärten damals in einer offiziellen Stellungnahme, dass die Fahrt die deutsch-russischen Beziehungen nicht fördere.
Die Realität habe dann das Gegenteil bewiesen, so die Nachtwölfe: Tausende deutsche Bürger hätten die Fahrt unterstützt. Chirurg dankte der deutschen Bevölkerung dafür und brachte Plakate, auf denen diese Dankbarkeit ausgedrückt wurde, und eine Kopie des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park zur deutschen Botschaft in Moskau. Damals war vielen Nachtwölfen und ihm selbst trotz gültiger Visa die Einreise verboten worden – sie seien eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, hieß es von deutscher Seite. Erst nachdem das Verbot richterlich aufgehoben wurde, konnten sie doch noch einreisen. Dass Biker derartige Memorial Runs in vielen Ländern veranstalten und selbst das sozialistische Vietnam den ehemaligen Kriegsgegnern von einst solche Veranstaltungen erlaubt, ging in der allgemeinen Hysterie unter.
Während die Politik in Deutschland eine Hexenjagd auf Rocker und Motorradclubs veranstaltet, können die Nachtwölfe ihre Projekte in Russland erfolgreich umsetzen. Einige Male erhielten sie in den letzten Jahren dafür sogar Unterstützung aus öffentlichen Mitteln: Mehrmals haben sich die Nachtwölfe an offiziellen Ausschreibungen beteiligt, um Weihnachtsaufführungen für Kinder zu organisieren – und den Zuschlag erhalten. Wahrscheinlich profitieren der Kreml und die Biker voneinander. So hat sich Putin höchstpersönlich bereits mehrfach medienwirksam mit Chirurg getroffen. Der hat wiederholt betont, dass er den Präsidenten Russlands unterstützt und respektiert, gleichzeitig aber kein Produkt des Kremls ist. Aus dem ein oder anderen Grund ist der Präsident der Rocker deswegen fast so berühmt wie der Präsident der Russischen Föderation.
Seine Ankunft im Bike Center am Freitagmittag bemerkt man jedenfalls auch am anderen Ende des Geländes: Alle Köpfe drehen sich in eine Richtung, die von unzähligen Händen angezeigt wird. Chirurg wird von einer Menschentraube umringt wie ein Rockstar, von allen Seiten bedrängen ihn Clubbrüder, Gäste und Freunde. Jeder will ihm gratulieren, fast alle möchten ein Selfie mit ihm machen. Für die fünfzig Meter vom Eingang des Bike Centers zum Eingang des „Sexton“ braucht er deshalb eine halbe Ewigkeit.
Der Eingang zum Bike Center. Vor einigen Jahren brannte das Hauptquartier der Nachtwölfe fast vollständig ab. Restaurant und Club sind nun in einem neuen Gebäude in U-Boot-Form untergebracht. Es trägt den Namen „Sewastopol“ – Chirurg ist in der größten Stadt auf der Krim aufgewachsen
Sexton, das ist der hauseigene Club der Nachtwölfe, der sich auf dem Gelände des Bike Centers befindet. Jedes Wochenende machen hier feierwütige Gäste die Nacht zum Tage, die Location ist auch unter jungen Russen beliebt, die mit Motorrädern eigentlich nichts zu tun haben. Der Name ist eine Reminiszenz an Chirurgs Zeit in Deutschland: Mitte der Achtzigerjahre hat er eine Zeit lang in einem besetzten Berliner Haus gelebt und gegenüber als Türsteher in einem Club gearbeitet – dessen Name: Sexton. Bevor er vom geliebten Berlin nach Moskau zurückkehrte, ließ er die dortigen Wände abfotografieren und versprach, in seiner Heimat den ersten Rockerschuppen aufzumachen und ihn ebenfalls Sexton zu nennen. 2006 war der Betreiber des inzwischen geschlossenen deutschen Originals dann zum ersten Mal in Moskau zu Besuch, bis heute sind er und Chirurg Freunde.
Für die nächsten Stunden ist Chirurg dann nicht mehr zu sehen. Denn die Nachtwölfe nutzen das Wochenende ebenfalls, um sich über Vergangenes auszutauschen und Zukünftiges zu planen – und auch, um das ein oder andere Problem zwischen einzelnen Membern oder Chaptern aus der Welt zu schaffen. Beides gibt es auch bei den Nachtwölfen, dem vermeintlich streng hierarchisch geführten Club – und auch hier ist das eine oft nicht vom anderen zu trennen. Eine Frage, die an diesem Wochenende unter anderem auch eine Rolle spielt, ist die der Русские Мотоциклисты („Russische Motorradfahrer“), dem einzigen offiziellen Support der Nachtwölfe. Ein anderes Thema ist die oben erwähnte „Straße des Sieges“, die Fahrt nach Berlin. Verschiedene Fraktionen im Club haben ihre jeweils eigene Sichtweise auf das, was in den letzten Jahren gut lief und wie die Fahrt in Zukunft aussehen soll.
Auf dem Gelände ist davon nichts zu spüren. Immer voller wird es im Innenhof des Bike Centers; und nicht nur hier, sondern auch auf dem großen angrenzenden Campingplatz ist die Laune bestens. Dort wird nicht nur Benzin gequatscht, sondern auch mal zur Quetschkommode gegriffen. Russische Volkslieder werden angestimmt und alle singen mit. Nur die Member des Chapters Donbass sind etwas reservierter und wollen nicht gefilmt werden. In ihrer Heimat kämpfen prorussische Kräfte für „das Recht, russisch zu sein“ und die Abspaltung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk von der Ukraine.
Erzählt wird der Kampf von Gut gegen Böse, Russland gegen die USA mit ihren Dollars und Sanktionen. Auch ohne Russischkenntnisse versteht man ungefähr, um was es geht: In den Augen der Schlange leuchten Dollar-Zeichen …
Auch jenseits vom Campingplatz ist viel zu sehen, überall ist Action und Party angesagt. Das Bike Center ist ein weitläufiges, verwinkeltes Areal mit mehreren Bühnen und allerlei kunstvollen Gebilden aus Schrott und Stahl – der kultige Endzeitklassiker „Mad Max“ stand hier Pate. Vieles davon wird für die legendären Shows des Clubs eingesetzt: Dann spucken Drachen Feuer, fliegen Engel und Motorräder durch die Luft, während Lasershows das Sahnehäubchen auf die allgemeine Reizüberflutung setzen. So wird bis spät in die Nacht auf dem riesigen Areal gefeiert – und irgendwann taucht auch Chirurg wieder auf: Für die Annahme der vielen Geschenke auf der Bühne.
Höhepunkt am Samstag ist die Ausfahrt durch Moskau. Pünktlich um 14:23 Uhr soll sie starten – die Ziffern stehen für den 14. und 23. Buchstaben des Alphabets: N und W, „Nacht“ und „Wolf“. Dass der angepeilte Startschuss schlussendlich etwas später fällt, ist bei dem beeindruckenden Korso von ungefähr dreitausend Motorrädern schnell vergessen. Angeführt wird die Kolonne natürlich von Chirurg, auf seinem Lieblingsmotorrad, einer umgebauten Vmax. Ganz vorn in seiner Nähe mitzufahren, ist ein besonderes Privileg. Einer von denen, der es genießt, ist der Präsident des Chapters Krim – ein deutliches politisches Signal, lautet einer der Wahlsprüche der Nachtwölfe doch „Wo wir sind, ist Russland“. Mit Dutzenden großen, wehenden Fahnen, unter denen die russischen Nationalfarben am häufigsten vertreten sind, geht es vom Bike Center quer durch Moskau. Viele fahren ohne Helm, Roadblocker sperren die Kreuzungen – ein bisschen ist die Anarchie aus der Zeit von Glasnost und Perestroika zu spüren, als die Sowjetunion dramatisch implodierte und sich der Club auf den Straßen Moskaus formierte.
Erster Halt des Korsos ist die Straße „Erster Baltiyskiy Pereulok“. Hier, in der Hausnummer 6/21, befand sich der erste „Sexton“-Club, das erste Clubhaus der Moskauer Night Wolves. Es gibt praktisch keine sichtbaren Hinweise mehr darauf, dass dies Teil der Geschichte des größten Motorradclubs in Russland ist. Nur eine massive Metalltür am Eingang erinnert die Freunde an die turbulente Vergangenheit der Motorradbruderschaft, die in der Epochenwende ihren Ursprung hat. Chirurg und einige andere Member der ersten Stunde lassen die alten Zeiten Revue passieren, Michael Semenov, Sänger der Rockgruppe „Dekabr“, legt eine Spontaneinlage hin, dann geht es weiter durch die gigantische Metropole.
Bevor der Korso zurück ins Bike Center fährt, wo bis zum frühen Sonntagmorgen gefeiert wird, macht er noch einmal Halt am „Severnoye-Tushino-Park“ im Nordwesten Moskaus. Ein großes Freizeitareal für Familien, mit Kinderkarussells, Imbissbuden und viel Grün. Auf einer Lichtung hatte Chirurg hier 1997 anlässlich der 850-Jahr-Feier Moskaus eine Eiche gepflanzt. Seit heute erinnert davor ein großer Stein an das dreißigjährige Jubiläum der Nachtwölfe. Vieles läuft bei den russischen Rockern wie bei uns – aber einiges eben auch anders. «
Kontakt
Bike Center Sexton – Notschnyje Wolki
Ulitsa Nizhniye Mnevniki 110
123423 Moskau
www.nightwolves.ru
www.bikecenter.ru
10.–11. August 2019
14. Internationale Bikeshow, Sewastopol
www.bikeshow.ru
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